„Der demokratische Diskurs muss in Zeiten von Social Media neu gelernt werden.“ [1]
Jürgen Habermas
Laut der Gesellschaftstheorie von Jürgen Habermas, einem der bekanntesten Philosoph:innen, Soziolog:innen, Demokratieforscher:innen und Kapitalismuskritiker:innen unserer Zeit, treten Krisen und Konflikte in westlichen Demokratien immer dann auf, wenn die rationalisierte Lebenswelt westlicher Gesellschaften durch systemische Imperative ökonomischer Verwertung oder staatlicher Verwaltung gewissermaßen von außen kolonialisiert, unterwandert oder manipuliert werden.“[2] In seinem 2022 veröffentlichten Buch „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“ fordert Habermas wie schon vor sechzig Jahren – damals ohne Social Media – eine deliberative Demokratie, also eine Demokratie, die vom öffentlichen Diskurs lebt. In der liberalen Demokratie sind nicht nur alle Bürger:innen politisch gleichberechtigt, sondern auch gleichberechtigte Diskursteilnehmer:innen. Das bedeutet, dass sie über die Voraussetzung ihrer eigenen Gleichberechtigung – nämlich den demokratischen und liberalen Rechtsstaat – frei und gleichrangig diskutieren, und zwar im vorparlamentarischen öffentlichen Raum. Das Problem, das Habermas anspricht, ist, dass nicht alle Bürger:innen mit demselben Wissensstand, dem gleichen Gerechtigkeitssinn und den gleichen Debattengrundsätzen ausgestattet sind und so am gesellschaftlichen Diskurs nicht gleichermaßen teilnehmen können. Ergänzen sollte man seinen Ansatz durch die sozialen Abstiegsängste der Menschen. Existenzielle Sorgen (z. B. infolge von Teuerungen) können in politischem Desinteresse und/oder Anfälligkeit für einfache politische Floskeln resultieren. Daraus folgt unter anderem die Erkenntnis, dass das Ergebnis des aktuellen Diskurses zu Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien führen kann. Dies wurde uns in den letzten Jahren vor Augen geführt: Die Wahl des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump in einer der ältesten Demokratien der Welt oder die Querdenker:innen rund um das Verleugnen von COVID-19.[3]
Weiters fordert Habermas, dass der demokratische Diskurs in Zeiten von Social Media unbedingt neu gelernt werden muss.
Habermas betont vor allem die Problematik des sinkenden Medienvertrauens. Er macht darauf aufmerksam, dass das Misstrauen der breiten Bevölkerung gegenüber Wahrheit, Seriosität und Vollständigkeit steigt, obwohl die öffentlich-rechtlich organisierten Medien seiner Meinung nach für ein verlässliches Angebot an Nachrichten und politischen Sendungen sorgen. Als Grund für diesen Vertrauensverlust in die Qualität der öffentlich-rechtlichen Medien gibt er die Unzuverlässigkeit und Korruptheit der Politiker:innen an.[4]
[1] Habermas, Jürgen (2020): Moralischer Universalismus in Zeiten politischer Regression. Jürgen Habermas im
Gespräch über die Gegenwart und sein Lebenswerk. In: Leviathan, 48. Jg., 1/2020, S. 7 – 28. Im Internet: Moralischer Universalismus in Zeiten politischer Regression. Jürgen Habermas im Gespräch über die Gegenwart und sein Lebenswerk. | Victor Kempf and Aletta Diefenbach - Academia.edu (eingesehen am 3.5.2023).
[3] Sakkas, Konstantin (2022): Jürgen Habermas: Der demokratische Diskurs muss in Zeiten von Social Media neu gelernt werden SWR2. Im Internet: www.swr.de/swr2/literatur/juergen-habermas-ein-neuer-strukturwandel-der-oeffentlichkeit-und-die-deliberative-politik-100.html (eingesehen am 3.5.2023).
[4] Vgl. Habermas, Jürgen (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin: Suhrkamp Verlag. S. 52.
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